Offener Brief an das ttt-Redaktionsteam: Kennen Sie Sabiha Gökçen?

Die ARD-Sendung Titel-Thesen-Temperamente (ttt) veranlasste in Ihrer letzten Folge ein Skandal. Ohne eine gründliche Recherche skandierte sie Lügen über die Dersim-Ereignisse von 1937/1938. In einem offenen Zuschauerbrief haben wir dazu eine Stellungnahme verfasst. Als Türkischer Jugendbund werden wir uns gegen jede Behauptung stellen, die unsere Geschichte umschreibt, um das türkische Volk und ihre Unabhängigkeitsbewegung zu diffamieren. Unsere Erklärung lautet wie folgt:

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Tarih: 04-12-2019

Als erste Kampfpilotin ging Gökçen in die Weltgeschichte ein. Sie war eine der Adoptivtöchter Atatürks, dem Befreier des türkischen Volkes aus dem Joch des Imperialismus. Sie ist auch heute noch eine Ikone türkischer Frauen, die bereits in der jungen Republik dank Atatürk erstmals das Recht auf Mitbestimmung im politischen Alltag erhielten. Von der revolutionären Grundidee der Unabhängigkeit war auch sie, wie der Großteil der türkischen Bevölkerung, überzeugt. Mit Enthusiasmus nahm sie daher teil an der Offensive von Dersim 1938, um ihr Ideal einer vereinten Nation und einer unabhängigen Türkei zu verwirklichen.

Um die Entstehungsgeschichte der Republik zu verstehen, muss sie auf einer Basis analysiert werden, die den Kampf gegen den Imperialismus in das Zentrum rückt. Kein Schritt und kein Ereignis, kein Beschluss und kein Befehl befand sich im Widerspruch mit dem Gebot das Land vor Angriffen zu schützen. Die Gründung der Republik war dabei derjenige Schritt, der die marode monarchistische Staatsform endgültig beendete, um den Fortschritt auf einem völlig neuen Grundstein verwirklichen zu können. In ihr spiegelt sich der Geist der französischen Jakobiner und ihrer Revolution wider. Auch sie strebten nach einem neuen, gemeinwohlorientiertem System auf produktiver Basis, um die morsche Monarchie zu ersetzen.

Umso weniger wundert uns der Angriff Ihrer Sendung auf dieses Grundgerüst. Beispielhaft bewiesen die Produzenten des sechsminütigen Nachrichtenfilms, wie man keine wertneutrale und unabhängige Berichterstattung führt. Sie haben offensichtlich den Pressekodex verletzt und haben nicht tiefgründig genug recherchiert (Ziffer 2), denn sonst hätten Sie gewusst, dass der Wahrheitsgehalt ihrer Behauptung, Atatürk habe einen Staat mit einer sunnitischen Religion zu errichten versucht, sich auf null beläuft. Umso eindrucksvoller finden wir die Tatsache, dass Ihr Komplize bei dem Bruch des Pressekodex eine Organisation ist, die sich damit rühmt die türkische Unabhängigkeitsbewegung als eine bloße „Türkisierungsbewegung“ darzustellen (dersim-tertele.de).

  1. Die „Türkisierung“ der Bevölkerung zu rügen, zeugt vom Unwillen, gar der Unfähigkeit einer Einordnung der Ereignisse in das Zeitgeschehen. Eine sorgfältige Berichterstattung hätte leicht die Schwierigkeiten eines Vielvölkerstaates wie des Osmanischen Reichs, das wegen des Millet-Systems unter den imperialistischen Kapitulationen gelitten hat, aufdecken können. Ein vor dem Gesetz gleiches Volk zu erschaffen bedeutete auch, dieses feudale Erbe des Osmanisches Reichs zu überwinden, um eine einheitliche Produktionsweise zu gewährleisten und nicht eine ethnische Gleichstellung zu erzwingen. Wie sonst lassen sich die Atatürk-Portraits erklären, die in Cem-Häusern neben dem Propheten Ali und dem alevitischen Philosophen Hacı Bektaş-ı Veli hängen?
  2. Das einzig Wahre bezüglich der Giftwaffen ist in Ihrem Bericht die Anschaffungsanfrage der türkischen Regierung. Eine Lüge ist hingegen, dass dies für die Durchsetzung eines Ziels „ein Volk, einen Staat, einen Führer und eine Religion“ gewesen sei. Der Einsatz von Giftwaffen war seit dem Ersten Weltkrieg und kurz zuvor im Abessinienkrieg Mussolinis, der übrigens zu der Zeit offen die türkische Westküste bedrohte, ein Angriffspunkt gewesen, auf den sich europäische Länder noch einstellen mussten. Der Befehlshaber und Gouverneur in Tunceli war Abdullah Alpdoğan, der 1936 in Elaziz (heute Elazığ) Erziehungsmaßnahmen zum Giftgasschutz der Bevölkerung durchführte. Einsatzbereit waren die Giftwaffen jedoch erst 1939, ein Jahr nachdem Atatürk gestorben war. Erst dann konnten jene Experten aus Großbritannien entsandt werden, die den Bau entsprechender Munition bewerkstelligen konnten (Özakıncı 2019).
  3. Aufgrund der Verleumdung, Atatürk habe in Dersim mit Hitler kooperiert, würden sich Ernst Reuter, Ernst Eduard Hirsch, Fritz Baade und viele andere wahrscheinlich im Grab umdrehen. Die junge Republik war es, die die jüdische Wissenschaftler aufnahm, als sie vor der NS-Diktatur flohen. Die Türkei bot Schutz in einer Zeit, als das deutsche Volk nach Hilfe suchte und bewies ihr Verständnis vom Frieden – dem Leitspruch Atatürks schlechthin.
  4. Bei Seyit Rıza, dem Clanherrn in der Region Dersim handelte es sich um einen Anstifter des Separatismus, der zuvor in vielen anderen Aufständen gegen die nationale Regierung Präsenz zeigte. Um es mit den Worten eines alevitischen Autors auszudrücken: „Im Gebiet verhielt es sich wie in einem Staat im Staate“ (Zelyut 2010, S. 189) und Armut, Hunger und mangelnde landwirtschaftliche Produktion machten dem Leben vor Ort zu schaffen. Obwohl Dersim sehr nützlich beim Aufstieg des Osmanischen Reiches gewesen war, waren die Aufstände der Clans, die schon im 19. Jahrhundert alleinige Herrschaft innehaben wollten, erheblich groß. Für Seyit Rıza, Baytar Nuri und Alişer, die übrigens Unterstützung von Großbritannien erhofften (Meydan 2010), war die Clanherrschaft ein Mittel zur Wahrung ihrer Feudalherrschaft und keine Demokratiebewegung um die Rechte der Aleviten. Sie missbrauchten die kurdische Identität, so wie Sie heute in Ihrem Beitrag die alevitische Identität dazu nutzen gegen die Unabhängigkeitsbewegung des türkischen Volkes zu hetzen und den laizistischen Charakter des türkischen Staates vollkommen zu ignorieren.
  5. Die republikanische Regierung führte viele Maßnahmen durch, um die Staatsautorität zu durchzusetzen. Sie investierte in die Infrastruktur mit dem Ziel, die Lebensverhältnisse zu modernisieren. Die Region erhielt auch einen neuen Namen, um sie auch formell vom Einfluss der Feudalherrschaft zu befreien. Dies ist der Geist, von dem auch Sabiha Gökçen umgeben war und der sie dazu animierte, als erste Kampfpilotin der Weltgeschichte in 1938 an der Dersim-Offensive teilzunehmen.

Tunceli bedeutet Moderne und Fortschritt und nicht Gewalt und Unterdrückung. Die Maßnahme war notwendig, um die Bewohner der Region von Clanherrschaft zu befreien. Tunceli zu verteidigen bedeutet heute nicht nur die Menschenrechte zu verteidigen, sondern auch, die Ereignisse von 1937/1938 sachlich analysieren zu können.

Dieser Aufgabe sind Sie in Ihrer Recherche offensichtlich nicht nachgekommen. Historische Berichterstattung kann und darf nicht auf bloßen Aussagen beruhen, sondern müssen gründlich untersucht werden. Als Türkischer Jugendbund bitten wir Sie nicht nur darum, sondern fordern Sie auch dazu auf, Ihren Fehler zu korrigieren und den Beitrag zu berichtigen. Gerne sind wir bereit dazu in einem konstruktiven Gespräch über die Ereignisse zu diskutieren, Berichte und Forschungsstände zu erläutern.

Mit freundlichen Grüßen,
Türkischer Jugendbund Deutschland

Quellen- und Literatur:
Dersim-Tertele.de, http://dersim-tertele.de/publikationen, 03.12.2019.
Meydan, Sinan, Cumhuriyet Tarihi Yalanları, 2. Kitap, İstanbul 2010.
Özakıncı, Cengiz, İngiliz Devlet Arşivlerinden Gizli Belgelerle Kanıtlıyoruz: Dersim’de Zehirli Gaz Kullanılmadı, in: Haberal, Mehmet (Hrsg.), Bütün Dünya Nr. 2012/06, 01. Juni 2012.
Özakıncı, Cengiz, Atatürk’e “Nazi Zehirli Gazıyla Kürt Soykırımı” İftirası ve Gerçekler, in: Haberal, Mehmet (Hrsg.), Bütün Dünya Nr. 2019/09, 01. September 2019, S. 46 ff.
Pressekodex, https://www.presserat.de/pressekodex.html, 03.12.2019.
Zelyut, Rıza, Yeni Arşiv Belgeleriyle Dersim İsyanları ve Seyit Rıza Gerçeği, 18. Auflage, Ankara 2010.

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